Ein gutes Anzeichen für eine tradierte und damit wenig zeitgemäße Kultur ist die Verwendung des Begriffs “Work-Life-Balance”. Auf Stepstone finde ich ganze 3.625 Treffer für die Suchkette “Work-Life-Balance”. Die Chiffre “Work-Life-Balance” dient dabei in den Stellenanzeigen wie ein Feigenblatt. Bloß die Nennung dieses Begriffs konnotiert eine moderne Kultur, so vermutlich der Gedanke dahinter. “Wir machen das mit den Fähnchen“, fällt einem dazu ein. In der Stellenanzeige selbst finden wir unter der Überschrift “was wir bieten” dann meist “Flexible Arbeitszeitmodelle und gute Work-Life-Balance“. Das sind Wirkungen, die der Ursache Arbeitszeit entsprechen. Wie wäre es mal mit einer Stellenanzeige, die eine moderne Kultur beschreibt? Nicht die Feigenblätter!
Arbeit und Leben konkurrieren nicht miteinander. Das sind beides Teile des Tages, Teile des Lebens. Was wir vielleicht noch balancieren können, sind die unterschiedlichen Zeitfenster, die für das eine oder das andere zur Verfügung stehen sollten. Und auf Teufel komm raus die 8 Arbeitsstunden am Tag vollzubekommen, hat sowieso in keiner Betrachtung etwas mit der Realität zu tun. Work-Life-Balance ist aber genau das – der Versuch, das Relikt der Arbeitsplatzpräsenz in Einklang mit der durch Digitalisierung und Verdichtung geprägten Welt zu bringen. Das passt doch nicht (mehr).
#NewWork: Arbeit und Leben konkurrieren nicht miteinander. Beides sind Teile des Tages, Teil des Lebens. Wir brauchen #Flexibilität Share on XWir Deutsche können nicht von dieser Denke loslassen und halten die 1908 eingeführte Regelung des 8-Stunden-Arbeitstages weiterhin für adäquat, um die Herausforderungen unserer Zeit zu regeln. Arbeitszeit gehört abgeschafft. Sie ist ein Relikt aus dem letzten Jahrhundert und folgt dem Führungsprinzip “Command & Control” und der daraus resultierenden Input-Orientierung. Im Jahr 1930 prognostizierte der Ökonom John Maynard Keynes seinen Enkeln, sie würden in einigen Jahren nur noch 15 Stunden in der Woche mit der Arbeit verbringen müssen. Mehr wäre nicht nötig. Und es kam anders! Mehr dazu gerne unter wir organisieren Arbeit immer noch wie vor 60 Jahren.
Unternehmenskultur im Fokus
Die Unternehmenskultur rückt zweifelsohne an sehr prominente Stelle in den Vordergrund. Weshalb? Weil sich die Treiber für die Berufs- und Karriereentscheidung maximal veränderten und weniger die harten, sondern die weichen Faktoren als wichtig formt. Spielt bei der Berufsorientierung – also der Ausprägung der Longlist für das persönliche Bewerbungsverfahren – noch Aspekte, wie Gehalt, Work-Life-Balance und herausfordernder Charakter der künftigen Aufgabe eine entscheidende Rolle, depriorisieren diese Treiber bei der Entscheidung, welchen Vertrag man unterzeichnet, weiter nach hinten. Nun spielen weiche Faktoren eine viel bestimmendere Rolle. Wie vernahm man die Stimmung im Gespräch? Wie war das Büro mit Auto oder öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen? Wie sind die Kollegen miteinander und mit mir umgegangen? Wie ist das fühlbare Klima und die Stimmung? All das sind prägende Elemente der Candidate-Experience, die man mittels nach außen gerichteten Personalmarketing-Maßnahmen nicht steuern kann. Die Treiber sind auch im Gegensatz zur Longlist, wo diese mehrheitlich der Ratio folgen, nun auf der Beziehungsebene und viel mehr emotional getrieben. 1.000 Euro Gehalt im Jahr mehr oder weniger sind nicht entscheidend.
Wo findet Arbeit statt?
Lassen wir uns von der Fragestellung leiten, wo Arbeit im Einklang mit der Digitalisierung künftig stattfindet. Ich vertrete die These, dass die Arbeitszeit- und Arbeitsortflexibilisierung ein wichtiger Teil einer Unternehmenskultur und des Faktors Arbeit sein muss. Insgesamt, so das Fazit, müssen alle Unternehmen heute schon Regelung finden, wie man auch außerhalb des Büros produktiv und technisch optimal wirken kann. Denn für eine immer komplexer werdende Welt – das gilt für das Private, wie das Berufliche gleichermaßen – sind Vertrauen und Verständnis zwei unmittelbare Attribute für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, der Lebensbalance und der dauerhaften Erhaltung der Beschäftigungsfähigkeit oder neudeutsch Employability. Und wer beruflich Tage und Wochen hat, wo deutlich mehr geleistet und von einem abgefordert wird, gilt es, die Balance direkt wieder zu finden. Das sind wichtige Bausteine für eine moderne und attraktive Arbeitgebermarke.
Und damit ist auch schon richtig festgestellt, dass aus der reinen Erwähnung der Modeworte “Work-Life-Balance” oder auch “Employer-Branding” noch keine nachhaltige Kultur und Strategie werden. Ich bin sehr sicher, dass eine fantastische Employer-Branding-Strategie mit konkreter und distinktiver Employer-Value-Proposition keine vernünftige Antwort auf die vorgenannten Megatrends ist. Sie ist nur Teil eines bunten Blumenstraußes an Maßnahmen, die allesamt auf die gewünschte und zeitgemäße Unternehmenskultur einzahlen.
Der Spiegel
In seinem Heft 2/2019 hat Der SPIEGEL das wunderbare Leitthema Arbeiten Sie doch, wo Sie wollen genutzt, um den Wandel in der Arbeitswelt zu beschreiben. Das neue Berufsleben – zwischen Freiheit und Selbstausbeutung – thematisiert auch Kulturelemente, wie bspw. das Homeoffice. Arbeiten Sie doch, wo Sie wollen! Der moderne Angestellte will nicht mehr gehorchen, er will selbstbestimmt und flexibel sein. Immer mehr Firmen erproben deshalb neue Ideen für Führung und Zusammenarbeit. Hierzu gibt es eine gute Illustration, siehe hier:
Weshalb arbeiten?
Die zentrale Frage der nachfolgenden Generationen ist: Weshalb geht man arbeiten? Der tradierte Zweck von “Arbeit” war schlicht, das eigene Überleben zu sichern. Die Nachkriegsgeneration der Baby-Boomer verfolgte das Prinzip “leben, um zu arbeiten” und war in ihrem ganzen Habitus geprägt davon. Der Mensch muss essen, trinken, wohnen, will materiellen Bedürfnissen nachkommen und konsumieren. Die Generation X – von Florian Illies auch Generation Golf genannt – hatte mit dem Prinzip “arbeiten, um zu leben” schon eine deutlich andere Ausprägung, insbesondere was das Konsumverhalten anging. Luxus, Genuss und sich auch mal was gönnen waren auf einmal die wichtigen Leitlinien des Lebens. Die Gen Y lässt sich von einem sehr ausgeprägten Bedürfnis nach Flexibilität leiten und folgt dem Prinzip “Leben und Arbeit in einem fließenden Übergang”.
Lesen Sie auch “Generationen: Veteranen, Baby-Boomer, X, Y, Z und bald Alpha“. Gen Y ist Gegenwart, Generation Z die Zukunft
Lebensbalance ist wirklichkeitsnah
Deshalb greift auch der Begriff “Work-Life-Balance” nicht mehr, weil diese Generationen (Y, Z) und die darauf folgenden nicht mehr zwischen “Work” und “Life” trennen. Das ist das Leben. Beruf und Freizeit, Freunde und Karriere, Familie und Hobbys sind untrennbarer Teil des Lebens. Mancher HR-Prophet und Vordenker spricht dann auch richtigerweise von der Lebensbalance. Um diese zu gewährleisten, brauchen wir Flexibilität!
Die Gen Y (und Z) will schnell vorankommen. Sie will Arbeit und Leben in einem fließenden Prozess und Übergang verstehen. Diese Generationen werden die Kultur in den Unternehmen stark beeinflussen und mithin verändern. Weshalb? Die Gen Y und Z sind häufig materiell vollversorgt und überbehütet, aufgewachsen in Wohlstand und Frieden. Sie setzen ihre Prinzipien nach einer völlig neuen Priorität: Erfüllung und Selbstverwirklichung.
Anwesenheit mit Leistung verwechseln
Die Geschichte ist einfach erzählt. Der demografische Wandel und die Digitalisierung auf der einen, die Globalisierung und der Wertewandel der Generationen Y und Z auf der anderen Seite machen die Arbeitswelt komplexer als zuvor. Dazu kommen noch hoch volatile und kaum mehr planbare Absatzmärkte. Das Business ist kurzfristig unterwegs. Unsere HR-Agenda meist langfristig, das funktioniert nicht (mehr). Und die Arbeitswelt ist deutlich komplizierter für Führungskräfte – mit zunehmender Tendenz. Als Personaler, die wir an unterschiedlichen Stellen intra und extra muros versuchen, durch Aussagen und Gestaltungswillen einen Einfluss und Wirkung auf Verhalten zu generieren, stehen mittendrin in dieser Entwicklung. In unserer Rolle begegnen wir doch oftmals einen Unwillen für Veränderung. Ein Teil der Veränderungsresistenz liegt sicherlich in der Kultur des Unternehmens und/oder der Führungskraft begründet. Das ist meist eine individuelle Führungskultur, die von lauteren Motiven geleitet wird. Diese Motive können kollektive Ursachen haben, denn Führungskräfte werden natürlich protegiert von deren Führungskräften, was zum Teil zu Sozialisierungen mit althergebrachten Werten führt. Also ist das Teil der Biografie und der Entwicklung der eigenen Werte über einen längeren Zeitraum hinweg.
Ich bin sicher: Flexibilität von Arbeitszeit und Arbeitsort ist ein Wettbewerbsfaktor!
Recht auf Homeoffice?
Und selbst die altehrwürdige SPD springt nun auf den Zug auf und fordert ein Recht auf Homeoffice, wie es schon in anderen Ländern, bspw. in den Niederlanden, Fakt ist. PLÄNE DER SPD: Kommt bald das Recht auf Home Office? Ich hatte dazu auf Twitter nur den kurzen Kommentar notiert:
Au weia. Wenn die SPD das Kulturelement „Homeoffice“ als Teil agiler Arbeitsformen in ein Gesetz gießen will, erreicht sie das Gegenteil von Flexibilität.
Good bye Work-Life-Balance. Welcome Flexibility
Work-Life-Balance ist ein Feigenblatt. Homeoffice, Flexibilität bei persönlichen und privaten Verpflichtungen, bei Weiterbildungen, Fortbildungen, Ehrenämtern kommt in Stellenanzeigen kaum vor!
Flexibilität oder auch New Work sind agile Arbeitsstrukturen. Die Agilität verstehen wir meist als Arbeitsstrukturierungsprozess, verkennen aber die kulturelle Bedeutung hinter dieser Methodik. Arbeit von zu Hause oder einem anderen Ort aus zu erledigen, ist ebenso ein Teil davon, die Fehlerkultur, Vertrauenskultur, Zielorientierung und das Loslassen von Präsenzdenken und der Input-Orientierung. Die Selbstverständlichkeit, dass Arbeitnehmer zeitweise weniger arbeiten und dabei trotzdem Führungspositionen innehaben, hat sich wenig verbreitet und schon gar nicht durchgesetzt.
Work-Life-Balance ist ein Feigenblatt. Homeoffice, Flexibilität bei persönlichen und privaten Verpflichtungen, bei Weiterbildungen, Fortbildungen, Ehrenämtern kommt in Stellenanzeigen kaum vor! Share on XNeudefinition von Work-Life-Balance nötig
9 to 5 kommt wieder in großen Schritten. Für Mitarbeiter und auch die künftigen ist eine Arbeitszeittreue des Arbeitgebers, eine viel stärkere Flexibilität von Arbeitszeit und Arbeitsort immens wichtig und lässt das Pendel vom einen, eher tradiert kulturellen Arbeitgeber, schnell zum anderen, eher modern ausgerichteten Arbeitgeber, schwingen. Klare Arbeitszeiten mit einer gefühlt richtigen Balance der Arbeitszeit ist bei der Wahl des Arbeitgebers vorherrschend. Das ist ein Wettbewerbsfaktor! Kultur ist der Distinktionsfaktor Nummer 1! Bewerber entscheiden auf Basis vieler Aspekte, rationelle und auch emotionale. Die Unternehmenskultur geben zwei Drittel aller Absolventen als den entscheidenden Treiber ihrer Vertragsentscheidung an. Befragen Sie Ihre Recruiter: die meisten Recruiter werden Ihnen bestätigen, dass die Kultur der überzeugendste Faktor bei der Überzeugung großartiger Talente ist. Niemand will für einen Dinosaurier arbeiten!
Was ist die heutige Sicht auf die Bedeutung der Work-Life-Balance?
- Arbeitszeittreue des Unternehmens
- Flexibilisierung der Arbeitszeit
- Flexibilisierung des Arbeitsorts
- Zeitsouveränität
- Respekt vor den persönlichen Interessen
Die Aufzählung wird unvollendet bleiben, bietet die Ausgestaltung von Flexibilität und agilen Arbeitsstrukturen doch viele berechtigte Interpretationen. Um es konkret zu sagen: Wie geht ein Unternehmen mit dem Bedürfnis eines Mitarbeiters um, der gerne und viel joggt und am Nachmittag um 14:00 Uhr seine beste Zeit läuft? Wie geht ein Unternehmen mit einem Mitarbeiter um, der gerne um 16:00 Uhr nach Hause fährt, um abends um 22:00 Uhr noch eine Stunde zu arbeiten? Wie ist die gängige Praxis der Präsenz im Büro? Wird die Arbeit von zum Beispiel zu Hause toleriert, akzeptiert und gewünscht? Akzeptieren die Unternehmen die gewünschte Flexibilität auf der einen Seite, deren Widerstreit mit z. B. dem Arbeitszeitschutzgesetz auf der anderen?
Wir sprechen also nicht mehr über Flexibilität als Ganzes, sondern über einzelne Bausteine der Personalpolitik und somit Kulturelemente. Über allem steht die Flexibilität. Die Möglichkeit und Freiheit des Individuums, seine Arbeitszeit, den Arbeitsort und die Intensität eigenverantwortlich und unbürokratisch selbst zu individualisieren. Natürlich nicht generell, sondern temporär und partiell.
Die hiesigen Unternehmen und Arbeitgeber kommen gar nicht umhin, ihre Personalpolitik und die HR-Instrumente auf die Bedürfnisse der heutigen und zukünftigen Workforce hin anzupassen und auszurichten. Nur wer als Arbeitgeber den Respekt vor den persönlichen Bedürfnissen des Mitarbeiters in Einklang bringt mit den Erfordernissen des geschäftlichen Ablaufs, wird auch in Zukunft bestehen und sein Geschäftsmodell erfolgreich forcieren. Denn ohne die knappste Ressource überhaupt – den Faktor Mensch – wird jedes Geschäftsmodell seine strukturellen Schwierigkeiten bekommen. Dies ist das Ende der Work-Life-Balance und der Anfang von konkreten Maßnahmen zur mehr Flexibilität der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.
Viel Erfolg und beste Grüße
Ihr Marcus Reif