Viele geniale Unternehmer hätten deutsche Konzerne nie entdeckt, sagt der Personalexperte Marcus Reif. Schuld daran sei auch der ewige Notenvergleich. Marcus Reif ist Personalchef. Er sieht das deutsche Bildungssystem kritisch – aber auch die Art, wie viele Unternehmen ihre Mitarbeiter auswählen.
SZ: Herr Reif, mit guten Noten bekommt man einen Studienplatz an einer guten Uni. Ein erfolgreiches Studium vereinfacht wiederum den Berufseinstieg. Warum kritisieren Sie das?
Marcus Reif: Die Wahrscheinlichkeit, in einem Unternehmen eine extrem gute Leistung zu bringen, hat nichts mit Noten zu tun. Noten sagen mir, ob jemand gut mit Theorie umgehen kann. Das interessiert Führungskräfte nicht. Als Führungskraft bewerte ich, ob ein Mitarbeiter an Leistung, Geschäftserfolg oder Input orientiert ist und deshalb zum Beispiel im Büro präsent ist. Dass Noten nichts vorhersagen, sehe ich an meinem eigenen Zeugnis.
Waren Sie ein schlechter Schüler?
Ich war in der Schule furchtbar schlecht in Mathematik. Wenn ich mir aber die letzten zehn Jahre meiner Karriere anschaue, dann sind es gerade der Umgang mit Budget und eine ausgeprägte analytische Kompetenz, die mich ausgezeichnet haben.
Ist es also Blödsinn, was Schüler im Matheunterricht lernen?
Wir unterliegen da einem Bildungsfehler: Für die Karriere ist Kombinatorik eine der wichtigsten Kompetenzen, das Verbinden verschiedener Stärken und das Ausgleichen von Schwächen. Das wird in der Schule aber nicht beigebracht.
Was meinen Sie mit Kombinatorik?
Ich gebe ein Beispiel. Marketingkandidaten habe ich die Frage gestellt: “Es kommt eine Führungskraft Ihres Unternehmens zu Ihnen und sagt: Ich brauche 400 Kugelschreiber. Was machen Sie?”. 90 Prozent sagen: “Ich laufe ins Materiallager und hole die Kugelschreiber.”
Das ist nicht die Antwort, die Sie von den Bewerbern hören wollen?
Neben der Theorie haben diese Menschen in der Schule gelernt, dass es die beste Karrierevoraussetzung ist, lieb und nett zu sein. Die Gegenfrage, die ich mir wünschen würde, ist: “Für was?”. Geht es einfach um Schreibwerkzeug oder muss vielleicht eine Teilnahme an einer Karrieremesse vorbereitet werden – werden außerdem Stand, Personal, Broschüren, weitere Werbegeschenke und ein Briefing benötigt? Hinter der Frage nach 400 Kugelschreiben kann sich viel verbergen. Das meine ich mit Kombinatorik.
Bewerber unterscheiden sich durch die Anzahl der Rechtschreibfehler
Haben Sie in der Schule denn auch etwas gelernt, das Ihnen bis heute im Beruf hilft?
Deutsch und Englisch finde ich extrem wichtig. Heute unterscheiden sich Bewerber durch die Anzahl ihrer Rechtschreibfehler. Auch der Geschichtsunterricht war hilfreich. Wenn man das Mittelalter oder die Romantik erklären muss, übt man, theoretischen Stoff interessant zu verpacken. Solche Aufgaben bleiben sinnvoll, weil sie Menschen anregen, frei zu agieren.
Wie sähe eine Schule aus, die Schüler besser auf die Berufslaufbahn vorbereitet?
Schulen und Hochschulen, die sehr viel Wert auf praktische Erfahrung legen, bringen nach meiner Erfahrung mehr Menschen mit den Voraussetzungen für eine gute Karriere hervor. Im Gymnasium meiner Heimatstadt gibt es eine Praxiswoche “Unternehmerische Beratung”. Die Schüler entwickeln und designen beispielsweise ein Produkt und machen sich Gedanken über Investitionen und möglichen Ertrag. Einige Produkte werden sogar marktfähig. Absolventen, die aus dieser Schule kommen, fallen in ihrer Kombinatorik sofort auf. Welchen Praxisbezug hat die Theorievermittlung? Das macht den Unterschied.
Fällt ihr Urteil über die Universitäten genauso kritisch aus?
Der Bolognaprozess hatte jedenfalls nicht die gewünschte Wirkung. Die meisten Unternehmen haben den Bachelor inzwischen akzeptiert: Das sind die Akademiker von heute, damit müssen wir jetzt klarkommen, indem wir einen Teil der Ausbildung in den Betrieb verlegen. Sie ziehen aber immer noch den Vergleich zu den Diplomabsolventen. Die hatten Wehr- oder Zivildienst geleistet, zwei lange Praktika in fünf Jahren Studium gemacht …
Die Zahl der Praktika ist bei vielen Bachelorabsolventen höher.
Aber sie sind statt sechs Monaten nur acht Wochen lang. Die Absolventen sind heute nicht mehr 27 oder 28 Jahre alt, sondern 21. Ihnen fehlt es insbesondere an sozialer Kompetenz und an Kulturverständnis. Aber die Hochschulen haben das erkannt und führen Praxissemester ein, die im Bolognaprozess nicht vorgesehen sind. Ich finde es vernünftig, dass so auf die Unternehmen zugegangen wird. 80 Prozent der Studenten machen keinen Master und von den übrigen gehen mit Sicherheit auch zwei Drittel in die Wirtschaft und nicht in die Wissenschaft.
Vorher schicken Sie Ihnen ein Anschreiben, Lebenslauf und Notenzeugnisse. Wie erkennen Sie daran, ob jemand kombinatorisch fit ist?
Gar nicht!
Aber Sie können ja nicht jeden einladen.
Stimmt. Personaler sind seit Jahrzehnten darin geschult, drei Stapel zu bilden: A-Kandidaten, B-Kandidaten, C-Kandidaten. Der C-Kandidat bekommt eine Absage, der A-Kandidat wird sofort eingeladen, die B-Kandidaten werden im Notfall nachgeschoben.
Menschen wie der Facebook-Erfinder Mark Zuckerberg, der United-Internet-Gründer Ralph Dommermuth und der Gründer von Dell Technologies, Michael Dell, würden dabei aussortiert, schreiben Sie auf Ihrem Blog. Wegen ihrer Noten?
Die drei haben beeindruckende Karrieren gemacht. Aber sie haben entweder nicht studiert oder ihr Studium abgebrochen. Viele Führungskräfte schauen sich nur die Biografie des Kandidaten an und entscheiden aufgrund von etablierten Mustern, Überzeugungen und Unternehmenskultur, welcher Kandidat am besten passt. Der Studienabbruch wird zum Ausschlusskriterium. Menschen mit dem größten Potenzial fallen so durchs Raster.
“Mit einem Gescheiterten möchte keiner zu tun haben”
Legen Sie das Zeugnis bei der Personalauswahl einfach beiseite?
Das kommt darauf an. Ich plädiere dafür, nicht biografie-, sondern profilorientiert auszuwählen. Wenn Sie als Journalistin in Ihrer Bewerbung zahlreiche Rechtschreibfehler haben und sich keine Mühe geben, ordentlich zu formulieren, sind Sie für den Job wahrscheinlich nicht geeignet. Eine 3,5 im Abitur sollte hingegen keine Rolle spielen. Will ich jemanden für eine Bank rekrutieren, kann eine Note schon eher ein Indikator dafür sein, ob derjenige mit Zahlen umgehen kann. Das müsste ich im weiteren Verlauf aber testen. Sie können also trotz Negativselektion qualitative Aspekte nehmen und 15 bis 25Prozent der Kandidaten aussortieren.
Den Kandidaten mit den besten kombinatorischen oder praxisorientierten Fähigkeiten haben Sie damit noch nicht.
Die Wahrscheinlichkeit, dass genau diese aussortiert werden, ist auch danach noch hoch. Wir müssen wegkommen von der Überzeugung vieler Führungskräfte, dass sie Potenzial innerhalb von zwei Minuten erkennen. In zwei Minuten erkennt man nur eine Chemie zwischen einander, den Sympathiefaktor. Entscheider wählen deshalb häufig Menschen aus, die ihnen ähnlich sind, die die gleichen Interessen haben oder einen ähnlichen Karriereweg. Sie ordnen Kandidaten unbewusst Stereotypen zu, mit denen sie gute und schlechte Erfahrungen gemacht haben. Da kann man nur mit mehr Eignungsdiagnostik gegensteuern.
Sie meinen Assessmentcenter?
Ich bin kein Freund des Assessmentcenters, aber in die Richtung geht es. Schon in einem kurzen Onlineassessment von 15, 20 oder 30 Minuten lassen sich zum Beispiel Analysevermögen, Leistungsmotivation, Adaptionsfähigkeit, Belastbarkeit und Serviceorientierung testen. Wenn diese Ergebnisse in die Gespräche einfließen, entsteht eine Struktur, die Führungskräften hilft, sich nicht nur von ihrem Bauchgefühl leiten zu lassen.
Müssen Toptalente überhaupt entdeckt werden oder setzen sie sich selbst durch?
Die Frage ist vielmehr: Entdecken Sie die Talente für Ihr Unternehmen oder entdeckt sie ein anderer? Ein Uli Hoeneß zum Beispiel bringt einen Antrieb mit, den Sie nicht bei allen Kandidaten finden. Er hat Außergewöhnliches geleistet.
Und außergewöhnlich gezockt und betrogen. Steve Jobs war auch nicht für seine Freundlichkeit bekannt. Sind solche Genies nicht ein Risiko für den Betrieb und den Personaler? Wenn Ihr Kandidat das soziale Gefüge sprengt oder einen öffentlichen Skandal verursacht, fällt das auch auf Sie persönlich zurück.
Absolut. Das muss man in Kauf nehmen. Wir Deutschen sind großgeworden durch das Minimieren von Risiko – im Maschinenbau, der klassischen Industrie, und auch in der Atomenergie. Aus dem gleichen Grund waren wir aber auch immer sehr schlecht darin, Geschäftsmodelle zu generieren. Wenn wir künftig nicht den Mut zum Unkonventionellen haben, wird die deutsche Wirtschaft ihren Stellenwert in der Welt nicht halten. Diese Menschen sind ein Risiko, weil sie versuchen, Dinge anders zu machen als vorher. Das kann schiefgehen, wenn es vorher einigermaßen lief. Wenn Sie aber erkennen, dass Ihr Pfad irgendwann endet, zum Beispiel in der Dieseltechnologie, und Sie haben keinen Michael Dell, Mark Zuckerberg, Uli Hoeneß und manch anderen an Bord, die Ihnen helfen, den Diesel 2.0 zu erfinden, dann war es das.
Wie macht man Arbeitgeber dafür sensibel?
Es hat sehr viel mit der Kultur zu tun. Wer in Deutschland einen Fehler macht, ist über Jahre hinweg verbrannt. Mit einem Gescheiterten möchte keiner zu tun haben. Die Perspektive, dass ich aus Fehlern lernen kann, gibt es viel zu wenig. Das müssen wir ändern, ohne den Leuten das Gefühl zu geben, sie hätten sich jahrelang völlig falsch verhalten. Ich sehe die Generationen Y und Z als Chance. Da kommen Menschen, die wollen über ihre Arbeitszeit und ihren Arbeitsort mitbestimmen, aber sie wollen auch über Inhalte und Strategie mitreden. Das hätte meine Generation sich nicht getraut. Man kann Führungskräften zeigen, dass sich da draußen etwas ändert. Darauf müssen sie aktiv reagieren, um in Zukunft mit dem ganzen Unternehmen bessere Arbeit zu leisten.
Quelle: Süddeutsche vom 25. Juli 2017, Link: sueddeutsche.de/karriere/karriere-in-deutschland-menschen-mit-dem-groessten-potenzial-fallen-durchs-raster
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