Recruiting? Kann doch jeder!
… und Potenzial erkenne “ich” in zwei Minuten.
Jeder vom Fach kennt das. Recruiting kann jeder, deshalb hat auch die ganze Firma eine Meinung zu Teilprozessen und zum Gesamtprozess. Diese Sichtweise übers Recruiting kann man auch unproblematisch auf den ganze HR-Bereich ausdehnen. Die Wirkung ist stets gleich. Die Wertschöpfung von HR wird unterschätzt, oftmals belächelt und als “quasi administrativ” bewertet.
Und doch ist es irgendwie hausgemacht. “Das Ende von HR! HR ist grandios gescheitert” bloggte ich vor einigen Wochen. Wie ist denn die Wahrnehmung “unserer Kunden” im Unternehmen? HR? HR macht Gehaltsabrechnung und sorgt für Gehaltsplanung, Betriebsvereinbarungen und dort, wo nötig, um Tarifvereinbarungen? Gekoppelt wird dies noch durch die Betreuung der vermögenswirksamen Leistung, Direktversicherungen, Umsetzung von Gesetzen und Rechtsprechungen. Das natürlich immer in höchster Qualität. Das ist und war stets der Anspruch der HR-Welt. Höchste Qualität. Aber selten das Setzen unserer Dienstleistung in eine wertschöpfenden Betrachtung zur Geschäftsstrategie.
Beinahe wöchentlich bekomme ich aus dem persönlichen Netzwerk Bewerbungen geschickt. Ganz im Stile von “die Person ist gut, schau doch mal, ob im HR eine Vakanz frei ist”. Man schaut auf das Profil und erkennt keine nennenswerte Expertise in Personalfragen. Und auf Rückfrage erntet man fragende Blicke, eher so im Sinne von: “für was muss man in HR denn Expertise haben”? Also so ganz kompetenz- und talentfrei geht es heute nicht. Gerade die moderne Auffassung der HR-Arbeit tendiert zur Aufstellung als Business-Partner. Dies impliziert die rein wertschöpfende Art der Tätigkeit und geht weg von rein administrativen Abläufen. Das ist aber eher die interne Sicht, die eigene Wunschvorstellung. Realität ist, dass nur wenige HR-Bereiche tatsächlich als wertschöpfender Business-Partner agieren.
Schauen wir noch mal zurück. 1950 waren 94% der Männer und 33% der Frauen im Arbeitsmarkt beschäftigt. Dies ist eine Differenz von 61 %-Punkten. Ende des 20. Jahrhunderts war die Differenz nur noch 12 %-Punkte. Man sieht also, dass sich in 50 Jahren eine Menge veränderte. Auch die Personalabteilung muss sich verändern.
Zitate
Oliver Burkhard schreibt auf humanresourcesmanager.de in einem Gastbeitrag sehr richtige Aspekte auf:
Die Personalfunktion muss sich als wesentlicher Treiber der Unternehmenskultur präsentieren. Denn Organisationen, die auf Werte setzen, sind nachweislich leistungsfähiger.
Und ein Zitat darf ich herausgreifen:
“Von über 180 Vorstandsmitgliedern in den DAX-30-Unternehmen ist nur einer ausschließlich Personalvorstand”
Die Disziplin Personal wird sowieso in den meisten Unternehmen “so mitgemacht”. Da übernimmt einfach ein Vorstand für “ein richtiges Thema” die Verantwortung in Personalunion für Personal gleich mit. Belege dafür gibt es zu Hauf. Weiteres Beispiel ist der HR-Vordenker Thomas Sattelberger:
“Dass ein Konzern wie Siemens auf einen eigenen Personalvorstand verzichtet, hat für mich Symbolkraft für den Niedergang der Personalfunktion”, sagt Thomas Sattelberger, ehemaliger Personalvorstand der Deutschen Telekom.
Hinter der Koppelung der Ressorts stehe der Irrglaube, dass man für Personalarbeit keine Fachkompetenz brauche und dafür schon der gesunde Menschenverstand genüge
Quelle: zeit.de/…/personalvorstaende-mitarbeiter-fachkraefte-personalmanagement
Recruiting kann doch jeder
Wieso kann Recruiting eigentlich jeder? Ich tippe mal, dass jeder HRler schon mal einen Satz im Stile von “Potenzial erkenne ich nach zwei Minuten” aus dem Fachbereich hörte. Sicherlich sind einige HRler selbst nicht davon frei. Aber schauen wir mal auf die reine Lehre, weshalb der Recruiter – und hiermit Recruiterinnen und Recruiter gleichermaßen genannt – ein Rollenprofil ist, welches ein hohes Maß an Kompetenz erfordert.
Neben den Standards, die ein Recruiter (w/m) beherrschen muss, kommen noch besondere Aufgaben auf ihn zu. Der Recruiter (w/m) ist prozessverantwortlich für die gesamte Wertschöpfungskette der Personalauswahl beginnend vom Sourcing über die Selektion, das Interview, die Einstellungsentscheidung, Vertragsverhandlung und das Onboarding. Zu den besonderen Aufgaben gehören bspw. Kommunikator und Übersetzer sein zwischen dem Fachbereich und dem Kandidaten, weil Fachbereiche oft in interne Fachtermini formulieren, spricht dies weder in einer Stellenanzeige, noch im persönlichen Dialog einen Kandidaten an. Hier zwischen der Unternehmenswirklichkeit und der realen Welt zu moderieren, ist eine der zentralen Aufgaben. Hier hilft der Recruiter schon zu Beginn des Prozess – nämlich beim Sourcing. Der Recruiter steuert externe Dienstleister, wie z. B. Agenturen, Media-Schaltagenturen, Personaldienstleister, Personalberatungen usw. und agiert als zentraler Ansprechpartner für die Bewerberinnen und Bewerber. Das Controlling und ein Blick auf die relevanten KPIs gehört ebenso zum Profil, wie eine objektive und professionelle Begleitung des kompletten Einstellungsprozesses von A bis Z. Nicht selten gehört die Beratung, Betreuung und das Coaching der Fachbereiche zu den wichtigen Aufgaben des Recruiters.Der Graduate-Recruiter ist oftmals auch Berufsberater für die heutigen Absolventen – mehrheitlich der Generation Y zugehörig – und agiert somit völlig anders als ein prozessorientierter HR-Generalist.
Durch den Bologna-Prozess sind die Bachelor-Absolventen von heute biografisch nahezu unvergleichbar. Aber die Personen hinter dem Bachelor sind höchst heterogen! Auch die Noten als selektionsrelevantes Kriterium sollte man nicht mehr singulär heranziehen, da die Noten der Hochschulen eher unvergleichbar sind und wenig über Potenzial und Talent aussagen, sondern eher über den Umgang mit theoretischem Wissen. Ergo wird Eignungsdiagnostik als HR-Instrumentarium einen viel höheren Stellenwert einnehmen. Bei Großunternehmen und Beratungen ist dies heute schon der Fall.
Was sind denn die Effekte, die das Erkennen von Potenzial und Talent so erschweren? Lesen Sie hierzu meinen separaten Blog-Beitrag: Übertragungseffekte/Partizipationseffekte.
Noten sagen wenig über Performance aus
Die Mehrheit der Unternehmen versteht bei der Selektion die Noten als zentralen Aspekt. Doch leisten ausweislich etlicher Studien die Noten keine berufliche Erfolgsprognose. Wenn also gute Noten nur bedingt mit hoher beruflicher Performance korrelieren, wieso verstehen dann viele Fachbereiche unter der Chiffre “die besten Kandidaten” Lebensläufe mit Abitur- und Bachelor-Noten von 1,x?
Schulnoten stellen klassischerweise den ersten Selektionsfilter für die Auswahl von Absolventen dar. Studien belegen zwar deren Prognosekraft für Universitäts-, Fachhochschul- und Berufsschulnoten, zur Prognose des späteren Berufserfolgs tragen Schulnoten jedoch weitaus weniger bei als standardisierte psychologische Auswahlverfahren auf Basis modularer Eignungsdiagnostik beispielsweise. Siehe hierfür auch: Die Validität von Schulnoten zur Vorhersage des Studienerfolgs – eine Metaanalyse (Sabrina Trapmann, Benedikt Hell, Sonja Weigand und Heinz Schuler; Lehrstuhl für Psychologie , Universität Hohenheim, Stuttgart).
Halten wir also fest: übliche Selektion von Absolventen nach Noten. Messbarkeit der Performance korreliert nicht mit “sehr guten” Noten. Bringt mich zu dem Fazit, dass hier anhand falscher Kriterien selektiert wird. Doch weshalb ist der Weg, nach Potenzial und Talent zu selektieren, ein so beschwerlicher? Weil es darum geht, ausgetretene Pfade zu verlassen, um über neue Wege nachzudenken.
Anforderungen an die Rolle “Recruiter”
Ich formuliere mal alle Aspekte als Frage, denn eine pauschale Antwort wäre aus meiner Sicht nicht zielführend. Jedes Unternehmen sollte eine eigene Definition der Recruiter-Rolle schaffen anhand der nachfolgenden Kriterien und Fragen:
- setzen Sie einen akademischen Abschluss der Recruiter (w/m) voraus?
- erwarten Sie erste oder mehrjährige Erfahrung in der Rekrutierung von Fach-/Führungskräften?
- ist aufgrund des Mentalitätswechsels der Recruiter der Zukunft Erfahrung innerhalb einer Personalberatung wünschenswert?
- erwarten Sie Berater-Mentalität und Verkaufstalent? Und wie prüfen Sie diese Persönlichkeitsmerkmale ab?
- wie gehen Sie mit den notwendigen eignungsdiagnostischen Kenntnissen um? Erarbeiten Sie ein internes Trainingsprogramm für Recruiter (w/m), zum Beispiel analog der DIN 33430 “Anforderungen an Verfahren und deren Einsatz bei berufsbezogenen Eignungsbeurteilungen”?
- wie prüfen Sie die notwendige Kommunikationskompetenz ab? Recruiter (w/m) müssen auf Augenhöhe sowohl mit den Entscheidungsträgern als auch den Bewerbern kommunizieren
- welche Kenntnisse und Zertifizierung sind weiterhin wünschenswert? Zum Beispiel Gesprächsführungskompetenz speziell in Interviewsituationen, verantwortliches Handeln und Entscheidungskompetenz?
Aufgaben eines Recruiters (w/m)
Übernimmt Ihr Recruiter (w/m) den Auswahlprozess von A bis Z? Die klare Betreuung und Zuschneidung der Rolle auf den End-to-End-Prozess der Personalauswahl, inkl. des Onboarding-Prozesses, hat eindeutige Vorteile gegenüber einer generalistisch orientierten Organisationsform. Der Recruiter ist Partner und Berater der Fachbereiche und trifft eine Empfehlung zur Einstellung auf Basis des Anforderungsprofils und der eignungsdiagnostischen Instrumente. Die reine Auswahl nach dem Mini-Me-Prinzip endet damit hoffentlich.
Und weshalb glauben nun einige außerhalb des Berufs Recruiter, dass sie das auch können?
Ausgleich für schlechtes Management
Kommen wir zu einem weiteren Aspekt. Recruiting ist eine Kerndisziplin jedes Unternehmens. Die Fähigkeit, die Personalbedarfe mittelfristig so zu bedienen, dass die Geschäftsstrategie durch den Aufbau des Personalstamms sowie punktuell zum Fluktuationsausgleich zu unterstützen, ist essenziell. Jedoch wird dies immer mehr konterkariert dadurch, dass unternehmensintern ein immenser Druck auf das operative Recruiting ausgeübt wird im Duktus von “Recruiting bringt zu wenig, muss besser werden”. Weshalb entstehen diese kurzfristigen Personalbedarfe? Aus schlechtem Management und schlechter Unternehmenskultur. Denn immer wieder ist die taktische Antwort auf steigende oder zu hohe Fluktuation ‘mehr Recruiting’. Das konterkariert die Kernaufgabe des Recruitings auf seiner strategischen Ebene “attract”. Sind doch die zentralen Treiber für überproportionale Fluktuation zumeist in unklarer Führung, schlechtem Führungsstil, schlechtes Management, ausufernde Konflikte, enttäuschte Erwartungen und verlorenes Vertrauen zu suchen. Die unternehmerische Antwort darauf ist “Retention Management”. Und das folgt in einem anderen Blog-Beitrag.
HR hat Zukunft!
Oder andersrum formuliert: HR wird eine Zukunft haben. Es geht gar nicht anders. Natürlich hat die wertschöpfende HR-Arbeit Zukunft. Und weshalb? Weil die Megatrends Demografie, Technologie und Wertewandel zu schwierigen Herausforderungen führen, die durch ein “mehr Recruiting” nicht mehr gelöst werden können. Aus diesem Grund sprechen die HR-Trends eine eindeutige Sprache. Ob es um den Umgang mit Fachkräftemangel geht, die endende Skalierung der Wirtschaftlichkeit über kurzfristigen Personalabbau, der Umgang mit der alternden Belegschaft/Workforce, härter Kampf um die richtigen Nachwuchskräfte oder der Umgang mit der verlängerten Arbeitszeit, mit den verschiedenen Generationen oder mit der absoluten Zunahme von Vielfalt sowie die Wünsche der nachfolgenden Generationen gerade hinsichtlich Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsort. Dies sind einige der zentralen Herausforderung für Arbeitgeber – War for Talent is over – Talent has won!
Wir HRler sitzen im breiten Spagat zwischen den Stühlen ‘Strategie’ und ‘Service’. Das trifft mein Gefühl dieses Spannungsfelds ganz gut. HR will und muss strategisch agieren. Doch oftmals treffen wir auf unsere Kunden, die eigentlich nur hohe Qualität an Service erwarten, aber eben nicht die strategische Komponente. Doch genau dies ist doch komplementär zueinander. Also, liebe HR-Community. Stellen wir uns der Strategie!
Beste Grüße
Marcus Reif
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