Mosaik-Karriere und der Idealkandidat
Ich verstehe es bis heute nicht so wirklich. Der Idealkandidat ist aus Sicht der Fachbereiche stets konformistisch, geht aber an der Realität des verfügbaren Nachwuchses auf dem Arbeitsmarkt doch mehrheitlich vorbei.
Aus meiner Erfahrung und tiefen Überzeugung gelingt eine Passung (oder “perfect match”) eines Bewerbers zum Anforderungsprofil aufgrund der Fachlichkeit, der Persönlichkeit und des sozio-kulturellen Fits. Elementar aus meiner Sicht ist nicht die Betrachtung der Biografie alleine, sondern im Besonderen der Blick auf Potenzial und Talent einer Person. Dies gelingt durch eine moderne Rekrutierung, über die ich hier eigentlich permanent blogge. So, wieder zurück zum Idealkandidat:
Der Idealkandidat: Eine keimfreie Biografie, die beginnt mit einem Abitur im Notenschnitt 1,0-1,8, keine Wehrpflicht und kein Ersatzdienst, kein nennenswertes außeruniversitären Engagement, Regelstudienzeit natürlich eingehalten, Praktika zwischen den Semestern, Abschluss des Bachelors mit irgendwas im gleichen Notenschnitt wie beim Abitur. Wieso genau diese Biografien besser wahrgenommen werden als jemand mit etwas weniger guten Noten, dafür mit außeruniversitärem Engagement und praktischen Erfahrungen ist eine der täglichen Fragen in der HR-Welt. Ehrenamt in der Freiwilligen Feuerwehr, beim DRK, Malteser, ASB und anderen, in der Kirchengemeinde, in Vereinen, beim Sport, im Hospiz, bei der Nachhilfe oder sonst wo. Das sind die Erfahrungen, die aus einer von Theorie begleiteten Biografie eine Persönlichkeit werden lassen.
Die Problematik formulierte Matthias Horx bereits treffend:
Das größte Manko ist, dass wir kein talentorientiertes, sondern ein abschlussorientiertes Bildungssystem haben
Deshalb gilt für mich und meinen Bereich schon seit langem:
Hire character, train skills
Oder eben: rekrutiere Haltung, Persönlichkeit und Charakter, trainiere Fähigkeiten. Das ist ein Erfolgsrezept und kein Geheimnis, wenn es darum geht, Potenzial und Talent zu erkennen, zu fördern und zu heben. Für die Kompetenzvielfalt spielt das sicherlich eine wichtige Rolle! Nichtsdestotrotz ist das eine Abkehr des Gewohnten!
Nicht nur die Wirklichkeit der Lebensläufe ist einer der Veränderungsimpulse, sondern auch unterschiedliche Bedürfnisse der Generationen. Ob nun statistisch betrachtet immer mehr Väter Zeit für die Kindererziehung investieren oder der stete Drang nach Flexibilität im Arbeitsleben, zu dem wir immer mehr eine Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsort beobachten, aber auch immer mehr Modelle in Richtung Teilzeit oder Karrieren mit längeren Auszeiten.
Die Mosaik-Karriere ist der neue gerade Lebenslauf
Die Berufswege sind evolutioniert, nicht zuletzt wegen der Bologna-Hochschulreform und der etwas technischen Auslegung der praktischen Erfahrung, die in der Realität so kaum vorkommt. Die Mehrheit der Vollzeit-Masteranden hat keine zweijährige berufliche Praxiserfahrung gewonnen, sondern geht direkt konsekutiv vom Bachelor in den Master. Das ist alles in allem auch nicht zu kritisieren, meine Hinweise finden Sie hier: Karriere ohne Master: Wann der Bachelor ausreicht.
Die F.A.Z. titelte Ende 2014 sehr treffend dazu:
Die Illusion der Berufsqualifikation
Der Bologna-Prozess leidet nach wie vor an zwei Grundübeln: an der Hybris, Studieninhalte europaweit regeln zu wollen, und an einer Ideologie der „Employability“, der Beschäftigungsfähigkeit.
Die alte Welt ist gerade hinsichtlich der Anziehungskraft von Ähnlichkeit als Erfolgsprinzip und dem daraus offenkundigen Dilemma bei der Personalauswahl (Pinguine rekrutieren Pinguine) sehr geprägt von den Mustern ihrer Führungskräfte. Der Konformismus und die Präsenz am Arbeitsort sind nur zwei Teile des Musters. Das zu wissen, bringt uns erst in die Lage, die Problematik in der Betrachtung der Realität zu erkennen.
Unterhalb finden Sie eine Grafik von mir, die den Karriereweg der ersten Jahre der alten Welt zeigt. Darauf folgend ist der theoretische Ansatz der Bologna-Reform, so wie ich ihn als Arbeitgeber sehe. Und die dritte Ansicht ist wir Wirklichkeit! Mit allen darauf folgenden Implikationen, wie mangelnde praktische Erfahrungen der Bewerber, die seniorige Führungskräfte gerne bemängeln. Aber wo soll sie denn herkommen beim Bachelor-Absolventen? Sie könnte nur aus der zweijährigen Berufserfahrung zwischen Bachelor und Master entstehen, wie oben schon festgestellt, geschieht dies praktisch nur selten.
Die Wirklichkeit ist die Mosaik-Karriere. Dazu braucht man keine Glaskugel. Die Fluktuationshöhen sind auf allen Senioritäten in den Unternehmen deutlich gestiegen. Die Generation X hat heute schon statistisch betrachtet 8 Arbeitgeber, die Generation Y ca. 12, die Generation Z wird bis zu 20 Arbeitgeber haben und Arbeit als Aneinanderreihung von Projekterfahrungen betrachten. Halte ich diese Statistiken und Prognosen nun gegen das Licht einer Lebensarbeitszeit von rund 45 Jahren, wird jedem klar und deutlich, vor welchen Herausforderungen die Arbeitgeber stehen. Alleine der Brain-drain, das gesamte Wissens- und Know-how-Management muss in den Unternehmen aufgefangen werden. Das war noch recht überschaubar zu Zeiten meiner Großeltern, die in der Regel dort in Rente gingen, wo sie anfingen zu arbeiten. Ein Nachfolge-Management der HR-Abteilung war da noch ein Klacks. Heute drehen sich in vielen Branchen, Professionen und Bereichen die Mitarbeiterzyklen alle drei, vier Jahre! Das Ergebnis ist die Mosaikkarriere!
Und wie erkennt man die Relevanz einer Mosaikkarriere und der immanenten Berufserfahrung für das gesuchte Profil?
Was ist relevante Berufserfahrung?
Früher waren Top-Positionen stets mit Leuten besetzt, die in der so genannten Kamin-Karriere in einer Fachlichkeit kontinuierlich nach oben gingen. Nehmen wir dies als These für die Entwicklung der Rekrutierung von Top-Führungskräften in 20 Jahren, wenn diese Kamin-Karrieren der Vergangenheit angehören, wie entstehen dann die typischen Biografien dieser Top-Leader?
Die Bedeutung von Relevanz für Berufserfahrung wird sich also maßgeblich verändern!
Es ist ein Paradigmenwechsel, zweifelsohne. Denn die Frage, was “relevante Berufserfahrung” ist, wird sich immer mehr von den harten Kriterien – Verweildauer und Charakter der Positionen im Lebenslauf – zu den weichen Kompetenzen hin entwickeln. Also Führungskompetenz, analytische Kompetenz, soziale Adaptionsfähigkeit, Leistungsmotivation, Kritikfähigkeit und Krisenmanagement-Fähigkeit, Belastbarkeit und Kommunikationkompetenz über die Resultatorientierung bis hin zur Fachlichkeit. Die Bedeutung von Relevanz für Berufserfahrung wird sich also maßgeblich verändern!
Die Bestandteile der Erfahrungen, Expertise und der “Learnings” einer Mosaikkarriere stehen also in einem viel stärkeren Zusammenhang mit den weichen Kompetenzen. Potenzial und Talent wird weiterhin deutlich zunehmen, die Gewichtung von Noten und theoretisch wirkenden Biografie-Bestandteilen nimmt sowieso schon kontinuierlich ab.
Vertikale Karriere, horizontale Karriere, Projekte und Meilensteine
Die Zukunft der Arbeitswelt und alles, was man als Karriere bezeichnet, wird geprägt sein von einer lebenslangen und an den Kompetenzen orientierten Entwicklung im beruflichen Kontext, eng gepaart mit dem eigenen sozialen System. Letztlich stelle ich mir jeden Tag aufs Neue die Frage, welche Wertschöpfung ich an diesem Tage für meinen Arbeitgeber, mein Team und für mich selbst erbracht habe. Das ist eine Betrachtung, die sich doch sehr von der Präsenzorientierung senioriger Generationen unterscheidet. Dort wird oft Anwesenheit mit Leistung verwechselt.
Vertikale Karriere
Die vertikale Karriere, weiter oben auch als Kamin-Karriere bezeichnet, beschreibt den typischen Verlauf einer Management-Biografie. Frühe Übernahme von Projekt oder Teilprojektverantwortung, Teamleiter, Gruppenleiter, Abteilungsleiter, Bereichsleiter, Geschäftsführer oder Vorstand – der klassische Weg über die Karrierestufen nach oben mit zunehmender thematischer und unternehmerischer Verantwortung, einhergehend mit Budget- und Mitarbeiterverantwortung.
Horizontale Karriere
Die horizontale Karriere ist eher das, was man in der Breite findet. Dies ist besonders wirksam bei der Bindung von Talenten mit hohem fachlichen Potenzial, die Freiräume und Möglichkeiten zur weiteren Verantwortungsübernahme sehen. Dies geht oft einher mit einer Ausdehnung der Fachlichkeit in der Breite, segment- und bereichsübergreifend. Diese Fachkarrieren können explizit auch aus der vertikalen Karriere ausgenommen sein. Dennoch sind die Gehalts-, Kompetenz- und Entscheidungsräume auch hier nicht limitiert. Gerade die Höchstleister haben häufig die Präferenz, umfassendes und tiefgehendes Wissen über die gesamte Prozesslandschaft oder Wertschöpfungskette hinweg zu erwerben und als Experte wahrgenommen zu werden.
Für die Relevanz bei der Karriere, gleich ob vertikal oder horizontal, spielen die Projekte und erreichte Meilensteine eine große Rolle. Hierfür darf es im Lebenslauf gerne den adäquaten Raum einnehmen, denn dies unterscheidet Sie ja von Ihrem “Bewerbungswettbewerber”. Verweise auch gerne auf meinen Appell: Mein Tipp an Absolventen: “Seid relevant!” Viel Erfolg!
Beste Grüße
Marcus Reif
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