Seit Freitag denke ich darüber nach, ob ich etwas zu den Geschehnissen in Oslo und Utöya schreiben soll. Ich bin entsetzt! Ich bin fassungslos! Ich bin wütend!
Habe mich erst einmal mit der Lektüre von Zeitungen, Online-Nachrichtenportalen, Blogs und sozialen Netzwerken beschäftigt. Die richtigen Worte zu finden, ist gar nicht so einfach. Die falschen Worte zu finden, erscheint mir dahingehend doch recht einfach, wenn ich manche Dinge so lese. Stefan Niggemeier schreibt im Feuilleton der Frankfurter Allgemeine Zeitung im Fernsehkommentar zum Terror “Wer solche Experten kennt, braucht keine Laien” sehr prononciert, was die meisten Menschen – ich nehme mich da nicht aus – bei den Eilmeldungen “Explosion im Regierungsviertel in Oslo” dachten.
Die Macht der Klischees
Am Freitag bekam ich die Push-Nachricht auf mein iPhone über die Spiegel-Online-App. Ich dachte noch: “verdammt – Al-Qaida!?”. Vermutlich denken viele Menschen so, was im Grunde das fatale Ergebnis des Terrors ist, die Selbstverständlichkeit des Mordens. Die Einordnung von gewissen Taten in selbstverständliche Cluster. Bomben kommen von Al-Qaida. Betonfüße gibt es von der Mafia. Autos zünden Linke an und Ausländer werden von Rechten verprügelt. So ist das mit den Klischees. Aber selbst – vermutlich gut saturierte – Journalisten und “Experten”, wie Elmar Theresen und Rainald Becker, die Niggemeier zurecht in seinem Artikel nennt, aber auch viele Redakteure der Online-Medien spekulierten bis ins Kraut hinein, welche islamistische Terrorzelle dafür verantwortlich zeichnet. Typischer Reflex. Ziemlich nebensächlich und im Nachhinein mehr als peinlich. Es war ein Norweger, ein Rechter. Medien schreiben, er sei Christ – wie immer das in das Gesamtbild hineinpasst, weil die Tat wenig christlich ist. Aber so erscheint die Medienkompetenz der Redakteure, die vom Facebook-Profil abschreiben. Die Einordnung in die Facebook-Welt nach “christlich”, “konservativ” und der Leidenschaft für “World of Warcraft” macht natürlich schnell eine Stereotype aus einem Verrückten. Der Verrückte bekennt sich übrigens “nicht schuldig”. Das macht mich noch mehr wütend, wütender als man sein kann und soll. So viele Menschen … so sinnlos.
Die wirklich kruden, fast schon apokalyptischen Thesen des für mich namenlosen Täters zeigen die Vielschichtigkeit einer in der eigenen Ideologie verhafteten Person. Und leider scheint diese Form der Ideologie bei vielen Menschen in Europa auf Gegenliebe zu stoßen. Wohin eine Ideologisierung führt, sehen wir. Wie wahnsinnig ist ein Mensch, der über Jahre hinweg – manche Zeitungen schreiben aus seinem 1.500-Seiten-Papier ab und quantifizieren die Vorbereitungszeit auf neun Jahre – einen Anschlag auf den Ministerpräsidenten plant, der als massive Ablenkung ein Zeitfenster schafft für einen feigen Mord an knapp 80 Jugendlichen? Wie nennt man so etwas? Irrsinnig, wahnsinnig, verrückt. Dann verschickt er sein Copy-and-paste-Pamphlet vorher noch per E-Mail an alle möglichen Leute. Das ist bis ins Detail geplanter Wahnsinn. Die halbe Welt kennt seinen Namen. Wie viele kennen die Namen der Opfer? Gestorben für was?
Für völlig verfehlt halte ich die Instrumentalisierung dieser Geschehnisse für die Politik unserer Zeit. Habe von vielen Politikern – leider aus fast allen Parteien – gehört, wie sie mit Blick auf Norwegen “Verbesserungen” fordern für unsere Sicherheitspolitik, Beispiel nehmen für die parteipolitische Ausrichtung und vieles mehr. In solch einer Zeit gilt nur eins – Solidarität und gemeinsame Trauer! Politik muss bis morgen warten. Im Übrigen muss auch noch die Überprüfung unserer Sicherheitssysteme warten. Sind wir mal ehrlich. Kann man sich vor solch einem Wahnsinn schützen?
Meine Gedanken sind bei den Angehörigen, Trauernden und den mit dem Leben davongekommenen Menschen sowie allen Norwegern.
“Unsere Antwort wird mehr Offenheit und mehr Demokratie sein. Wir lassen uns unsere offene Gesellschaft nicht kaputt machen.”
Jens Stoltenberg, Ministerpräsident Norwegen. Mit diesen Sätzen reagierte Stoltenberg am Samstagmorgen sehr emotional im Fernsehen
“Wir fühlen die Erschütterung genauso wie die Menschen in Norwegen. Klar ist, dass wir alle, die an Demokratie und friedliches Zusammenleben glauben, solchen Terrorismus, womit auch immer er begründet wird, scharf verurteilen müssen.” Merkel rief dazu auf, gemeinsam gegen Ausländerfeindlichkeit und Hass einzustehen. Nach ersten Erkenntnissen sei der Hass auf Andersartige das Motiv für die Anschläge gewesen. “Dieser Hass ist unser gemeinsamer Feind.”
Dr. Angela Merkel, Kanzlerin Bundesrepublik Deutschland
Marcus Reif
Ergänzung vom 27.07.2011:
Guter und professioneller Artikel dazu auf Spiegel.de: Die Denkfehler der Scharfmacher