Es ist paradox: Noch nie hatten wir so viele Tools zur Effizienzsteigerung – und noch nie war die kollektive Erschöpfung so groß. Die moderne Arbeitswelt glorifiziert das ständige „busy sein“, aber am Ende bleibt häufig nur ein erschöpftes, ausgebranntes Individuum oder gar ein ganzes Team zurück. Toxische Produktivität ist kein Modebegriff, sondern eine stille Pandemie der Wissensarbeit. Und wir in HR müssen sie an der Wurzel packen.
Die Leistungskultur hat ein Maß verloren
Die Erzählung ist alt: Wer erfolgreich sein will, muss mehr leisten. Mehr Stunden, mehr Meetings, mehr Verfügbarkeit. Doch diese Haltung produziert keine Exzellenz – sie produziert Burn-out. Laut der Beratung Mercer befinden sich 82 % der Beschäftigten im Burn-out-Risiko. Ein toxisches Mindset, das viele Unternehmen unreflektiert als „Hustle Culture“ leben – ein Relikt des Industriezeitalters, das in einer digitalisierten, vernetzten Arbeitswelt nicht nur unzeitgemäß, sondern gefährlich ist.
Produktivität neu denken: Output statt Präsenz
Die Zukunft gehört nicht denen, die am längsten online sind. Sondern denen, die klug mit Ressourcen umgehen – auch mit der eigenen Energie. Wenn generative KI viele Stunden an Arbeitszeit spart, warum messen wir Produktivität dann immer noch in Stunden statt in Ergebnissen? Wer früher fertig ist, hat nicht zu wenig getan – er oder sie hat effizient gearbeitet. Diese Haltung müssen wir als HR-Leitbild internalisieren und vorleben.
In unserer Heldenkultur werden Menschen gefeiert, die lange im Büro sind, auf Urlaub verzichten und am Wochenende arbeiten. Aus dieser Einstellung entsteht ein Umfeld, in dem Ausruhen mit Schwäche oder mangelndem Engagement gleichgesetzt wird. Die Kultur des Rumhockens und dieser aktuelle Präsenzfetisch sorgen für mehr Fake-Work anstelle mehr Produktivität. Die infantile Unterstellung, im Homeoffice wird mehr Wäsche gewaschen als gearbeitet, sorgt doch nicht für das Behandeln der Mitarbeiter auf Augenhöhe. Aber genau das ist unabdingbar, um eine hohe Produktivität zu erreichen.
Führung ist das Nadelöhr der Veränderung
Es sind nicht die Systeme, es sind die Menschen, die Kulturen prägen. Führungskräfte, die abends um 22 Uhr E-Mails schreiben und Urlaube verschweigen, sind keine Helden – sie sind ungewollt Brandbeschleuniger toxischer Arbeitskulturen. Wer heute führen will, muss Pausen fördern, Grenzen achten und Performance nicht mit Präsenz verwechseln. „Loud Vacationing“ – also das bewusste Vorleben von Erholungsphasen – ist keine Spielerei, sondern ein Kulturimpuls.
Radikale Maßnahmen? Ja, bitte.
Einige Unternehmen machen es vor: Shopify streicht Meetings pauschal. Atlassian schafft eine Position namens „Head of Team Anywhere“. Asana führt einen „Meeting Doomsday“ ein. Was sie eint: der Mut, heilige Kühe zu schlachten. HR sollte genau hier ansetzen: unnötige Routinen hinterfragen, Raum für Fokus schaffen und psychologische Sicherheit fördern – nicht nur im Krisenmodus, sondern systematisch.
Fazit: Die Zukunft der Arbeit braucht gesunde Menschen
Wir werden keine Spitzenleistung bekommen, wenn Erschöpfung der Preis ist. Es ist Zeit, toxische Produktivität als das zu entlarven, was sie ist: ein Kollateralschaden veralteter Führungs- und Leistungsideale. Wer Wandel will, muss ihn gestalten. Das beginnt mit ehrlicher Analyse und dem Mut zur Veränderung – bei uns selbst und in unseren Organisationen. Denn am Ende werden wir nicht bereuen, weniger Meetings gemacht zu haben. Sondern dass wir zu lange geglaubt haben, „viel“ sei gleich „gut“.
Viel Erfolg bei Ihrer Arbeit. Sie ist so wichtig.
Mit meinen besten Grüßen
Ihr Marcus K. Reif