Warum wir dringend lernen müssen, unbewusste Denkmuster zu erkennen – und wie sie unsere Personalentscheidungen ruinieren
Wir schauen auf Noten und wollen Performance. Wir schauen auf Biografie und wollen langfristige Bindung. Wir suchen nach Stallgeruch und wünschen uns Expertise. Wir sollten zuhören, sind aber am Senden. Wir beurteilen unsere Mitarbeiter nach Softskills, schauen bei der Einstellung aber nach Hardskills. Wir sollten Eignungsdiagnostik nutzen, lassen aber nur Bauchgefühl zu.
Unconscious Bias: “Ich erkenne Potenzial nach zwei Minuten” … oder weshalb Sie sich für den Falschen entscheiden!
Was ist das eigentlich? Unconscious Bias? Ich will Ihnen gleich die Angst nehmen. Jeder ist konditioniert auf seine Erfahrungen und Routinen. Jeder ist “biased”. Sie sind nicht krank! Sie unterliegen unbewusster Vorannahmen, denn so wird das Phänomen Unconscious Bias bezeichnet. Der renommierte US-Forscher Michael Kimmel, den ich vor einigen Jahren in Düsseldorf bei einer Veranstaltung kennenlernen durfte, erklärt, welche persönlichen Einschränkungen und wirtschaftlichen Schäden Vorurteile und überholte Rollenklischees bewirken können. Die verschiedenen Übertragungs- und Partizipationseffekte hatte ich ja schon thematisiert: “Ich erkenne Potenzial nach zwei Minuten”.
“Der Lebenslauf sieht gut aus. Die Noten sind top. Eingestellt!”
So oder so ähnlich verlaufen in vielen deutschen Unternehmen noch immer die Entscheidungsprozesse im Recruiting. Was sich oberflächlich wie eine rationale Wahl anfühlt, ist in Wirklichkeit oft das Produkt tief verwurzelter unbewusster Vorurteile – sogenannter Unconscious Bias. Und genau dieser Bias führt regelmäßig zu Fehlbesetzungen mit gravierenden Folgen: für Teams, für Führungskräfte, für das ganze Unternehmen.
Die wahren Kosten falscher Entscheidungen
Fehlbesetzungen sind teuer. Studien zeigen, dass eine falsche Einstellung ein Unternehmen leicht ein Jahresgehalt oder mehr kosten kann – durch sinkende Produktivität, gestörte Teamdynamiken, erhöhte Fluktuation und Imageverluste. Und doch passiert es ständig. Warum?
Weil wir uns in einem trügerischen Gefühl von Objektivität wiegen. Wir glauben, mit Lebensläufen, Zeugnissen und Noten harte Daten zur Hand zu haben. In Wahrheit aber bedienen wir mit genau diesen Informationen nur unsere inneren Automatismen. Wir suchen nicht nach dem besten Menschen für den Job, sondern nach dem vertrautesten.
Der Lebenslauf-Bias: Ein deutsches Phänomen?
In kaum einem anderen Land wird so sehr auf formale Qualifikationen und Karrierewege geschaut wie in Deutschland. Biografie ist alles. Hat jemand die „richtige“ Uni besucht? Lückenloser Lebenslauf? Gute Noten? Dann kann er oder sie ja nur gut sein. Doch dieser Blick blendet aus, was wirklich zählt: Soft Skills, Haltung, Teamfähigkeit, Lernwille, Selbstreflexion – all das lässt sich nicht an Noten ablesen.
Und mehr noch: Der Fokus auf „klassische“ Karrieren schließt all jene aus, die andere Wege gegangen sind. Menschen mit Brüchen im Lebenslauf. Quereinsteiger:innen. Eltern mit Wiedereinstieg. Menschen mit Migrationshintergrund. Alle, die „nicht ins Bild passen“. Der Schaden? Wir verlieren Talente, Vielfalt, neue Perspektiven – und am Ende die Innovationsfähigkeit unserer Organisationen.
Unconscious Bias: Der unsichtbare Entscheider
Unconscious Bias wirkt leise, aber mächtig. Er sorgt dafür, dass wir Bewerber:innen sympathisch finden, die uns ähneln. Dass wir introvertierte Talente unterschätzen. Dass wir Menschen mit Akzent für weniger kompetent halten. Dass wir Mütter für weniger leistungsbereit halten – und Männer über 50 für nicht mehr anpassungsfähig. Das alles geschieht, ohne dass wir es merken.
Und solange wir glauben, rational zu entscheiden, wird sich daran nichts ändern. Die Folge: Wir wählen nicht die besten, sondern die vertrautesten Menschen aus. Und wundern uns über mangelnde Performance oder Passung.
Was wir ändern müssen
- Bewusstsein schaffen: Jede Führungskraft, jede Recruiterin, jeder Entscheider sollte ein Grundverständnis für Unconscious Bias haben – und sich regelmäßig selbst reflektieren.
- Strukturierte Auswahlverfahren: Wer Soft Skills wirklich ernst nimmt, muss sie auch systematisch erfassen – durch standardisierte Interviews, Fallstudien, Gruppenaufgaben und Feedback aus dem Team.
- Vielfalt fördern: Statt nur auf Noten und Stationen zu schauen, sollten wir bewusst nach unterschiedlichen Perspektiven suchen. Diversität ist kein Risiko, sondern eine Stärke.
- Mut zur Lücke: Ein Lebenslauf mit Brüchen kann Ausdruck von Resilienz sein. Ein mittelmäßiger Abschluss kann mit starker sozialer Kompetenz einhergehen. Nur wer hinschaut, erkennt das.
Fazit
Falsche Einstellungsentscheidungen passieren nicht aus bösem Willen – sondern aus Bequemlichkeit, Unwissenheit oder Gewohnheit. Wer die Mechanismen dahinter versteht, kann sie durchbrechen. Und wer den Mut hat, anders zu entscheiden, trifft am Ende bessere Entscheidungen. Denn die besten Talente erkennt man nicht am Zeugnis. Sondern an ihrem Potenzial, mit uns gemeinsam zu wachsen.
Viel Erfolg bei Ihrer Arbeit. Sie ist so wichtig.
Mit meinen besten Grüßen
Ihr Marcus K. Reif
Worauf es wirklich ankommt – Kriterien für eine moderne Bewerberbewertung

Fachliche Mindestanforderungen
- Relevante Berufserfahrung oder Qualifikationen im Kontext der Stelle
- Praktische Projekterfahrung (nicht nur Titel und Abschlüsse)
- Lern- und Weiterbildungsbereitschaft (z. B. durch Zusatzkurse, Umschulungen, Eigeninitiative)
Potenzial und Entwicklung
- Hinweise auf Lernfähigkeit und Veränderungsbereitschaft
- Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen
- Offenheit für neue Rollen, Methoden, Technologien
Soft Skills und soziale Kompetenz
- Teamfähigkeit, Kommunikation, Konfliktlösung
- Selbstreflexion und Umgang mit Feedback
- Engagement und Wertehaltung (z. B. Ehrenamt, Mentoring, soziales Engagement)
Kontext statt Makel
- Lücken oder Brüche nicht vorschnell negativ werten: „Was hat die Person daraus gemacht?“
- Quereinstiege oder Branchenwechsel können Innovationspotenzial und hohe Eigenmotivation zeigen
- Vielfalt an Erfahrungen als Bereicherung, nicht als Risiko begreifen
Kognitive Verzerrungen erkennen und ausbremsen
- Sympathie ≠ Eignung: Achte auf objektive Kriterien, nicht nur auf den „ersten Eindruck“
- Unbewusste Vorannahmen (Alter, Geschlecht, Herkunft) bewusst hinterfragen
- Interviews strukturieren, Bewertungskriterien standardisieren
Tipp
Verwende ein Scoring-Modell, das fachliche Qualifikation, Soft Skills und Potenzial gleichwertig berücksichtigt. So triffst du Entscheidungen, die nicht nur sicher – sondern auch zukunftsfähig sind.









